„Neue Wege zu sich selbst“ dank Ehrenamt

Als junge Erwachsene blühte ich im „Ehrenamt“ auf, weil ich darin meine Lebensdankbarkeit mit anderen teilen konnte. Später, in den Jahren der „Wanderschaft“, kreierte ich für mich selbst Ehrenämter, in denen ich „Unverkäuflichkeit“ und „Freiwilligkeit“ als höchste Tugenden des Ehrenamts pries. Erst recht in Notzeiten, in denen ich weder Geld noch Kraft übrig hatte. In diesen Phasen lernte ich die interessantesten und beherztesten Ehrenamtler kennen, die auf derselben Welle surften. Wir liebten das, was wir für unsere Mitmenschen taten und niemand und nichts Äußerliches zwang uns dazu.

2021 zog ich nach 29 Jahren von Leipzig nach Dresden um und verließ damit auch meine gewohnten Netzwerke. In der neuen Nachbarschaft hieß mich eine Freundin mit der Frage willkommen: ‚Ob ich Lust hätte, als Ehrenamtliche in einer sogenannten „Lebendigen Bibliothek“ mitzuwirken? Diese funktioniere wie eine echte Leihbücherei mit Titelkatalog, Covertext & behilflichen Bibliothekaren … Ich könne bei der Suche nach Freiwilligen helfen und sie ermutigen, sich in „Lebendige Bücher“ zu verwandeln … Ich würde zur Mitstreiterin einer sozialpolitischen Bewegung werden, die in Dänemark entstanden ist und sich inzwischen international erfolgreich gegen Vorurteile und Diskrimnierung engagiert …’

Es zündet sofort

So begeistert, wie sie erzählte, sprang der Funken gleich auf mich über. Ich fühlte mich eingeladen zu einem ergebnisoffenen Projekt, in dem sich unterschiedlichste Interessierte zusammenfinden, um ein Wagnis zu zelebrieren. Schlußendlich, um eine Aktion zu einem noch zu fixierenden Datum mitvorzubereiten, an der einander fremde Mitmenschen teilnehmen würden. Menschen, die in einer halbstündigen 1:1 Lesung die einzigartige Geschichte ihres ausgewählten „Lebendigen Buches“ kennenlernen und, insofern gewünscht, auch vertiefen.

All das schien mir ein ganz „neuer Weg zu mir selbst“ zu werden, dank Ehrenamt. Er versprach zum einen: unmittelbar erlebte Neugier am Anderen, am Miteinander, an Authentizität. Zum anderen: Experimentierfreude an der Rollenverteilung unter uns Ehrenamtlichen, die noch offen ist, wochenlang … Zum Projekt- und Organisationsteam sollten mindestens acht „Lebendige Bücher“ oder mehr gehören, zwei „Bibliothekare“, die an einem Tresen potenziellen „Gastlesern“ die Buchthemen vorstellen und die Verteilung der Zwiegespräche koordinieren, sowie vier „Kümmerer“, die mit offenen Ohren, wachen Augen und u.a. für frische Gläser Wasser für alle „Lebendigen Bücher“ und „LeserInnen“ sorgten.

Auch die Rollen der Akteure innerhalb des Projektteams können in einer „Lebendigen Bücherei“ getauscht werden. Da begegnen sich erste Vorerfahrungen und abenteuerliche Vielfalt. Geschulte Trainer ermöglichen jedem Interessierten sich einzeln oder in der Gruppe allmählich heranzutasten. In drei bis vier Workshops vollziehen alle Mitwirkenden über mehrere Wochen hinweg ihren persönlichen Wandel, der ohne Verpflichtung bleibt.

Es fehlt der rote Faden!

Ein Kapitel aus dem eigenen, oft wirren Knäuel Leben aufschlagen? Eventuell sogar „veröffentlichen“? Zu einem „Lebendigen Buch“ werden? Wofür sollte sich das lohnen? Wer mag denn davon etwas hören? Und: sind wir uns nicht manchmal auch selbst „fremd“?

Also beginnen wir zuerst mit den „Gemeinsamkeiten“ und ziehen unsere Identitätskreise jedeR um sich selbst. Erster Ring von innen nach außen: Geburtsjahr, Name, Familie, Ernährung …, Zweiter Ring: Ausbildung, Berufung, Engagements …, Dritter Ring: usw. …

Dann folgen die „Besonderheiten“: Mein Name? Mein Alter? Mein Geschlecht? Mein Habitus? Meine Herkunft? Meine Muttersprache? Mein Dialekt? Meine Einbettung in meiner Familie? Mein Grad der Selbstbestimmung? Meine Lebensorte? Meine Höhepunkte? Meine Niederlagen? Meine Interessen? Et cetera, et cetera pp …

Wie kann ich den roten Faden in meinem Leben auf einen Nenner bringen? Ist mir das überhaupt möglich? Gibt es ihn? Zieht er sich durch?

Geradezu wohltuend ist es, durch gegenseitigen Austausch bestätigt zu bekommen, dass diese Zweifel auch an anderen heftig nagen!

Weiter gehts auf die wilde Bahn der „Identitätsspiralen“: Was ist der Grund, weshalb ich, du, er, sie, es: „wir“ zusammen heute hier sind? Was trieb uns aufs Äußerste und was ins Innerste, jetzt, in diesem Moment, wo es sich ausdrücken und beschreiben und verdichten soll, am Ende „runtergebrochen“ auf fünf Sätze?

Es treibt den Schweiß auf die Stirn, das Herz pocht wild, der Kopf lähmt und die Zeit des Darübernachdenkens wird auf zwanzig Minuten begrenzt. Am Ende hat es jedeR geschafft. Eine bewegende „Story“ über sich in zwanzig Minuten. Sowie fünf Sätze als Covertext und als Leitfaden fürs Freie Sprechen, die Geburt eines „Lebendigen Buches“.

Erlesene und bisher unerhörte Erlebnisse, die Mut machen

Jetzt finde noch eine Überschrift, einen Titel für die frisch erschaffene Erzählung! Dann losen wir aus, wer die/der Erste ist, über das soeben Entstandene zu erzählen und wer zuhört. Dafür gibt es wieder eine Zeitbegrenzung. Wir haben diesmal dreißig Minuten Zeit und „ich“ genieße als „Lebendiges Buch“ ganz besondere Privilegien. „Ich“ darf alles sagen, es gibt keinen anderen „Lektor“ außer mir. „Ich“ bin in die Lage versetzt, jenes, was ich von mir preisgebe, selbst-bewußt zu steuern. Sollte mir das nicht gleich bei der ersten „Vorlese“-Runde gelingen, kann ich in der nachfolgenden Reflexionsrunde hören, wie es den anderen „Büchern“ erging und darf selbstverständlich frei entscheiden, ob ich mich in eine nächste Übungsrunde wage.

Mein lebendiger Leser (= Zuhörer) ist ebenso „gewappnet“. Er hört der Geschichte seines zugelosten „Lebendigen Buches“ so offen wie möglich zu. Er beobachtet sich, wie er auf „meine“ Geschichte reagiert und bleibt bei sich. Wertschätzende Nachfragen sind ihm erlaubt und auch erste Rückmeldungen. Nach der halben Stunde gibt es eine Pause: „Lebendiges Buch“ und „Lebendiger Leser“ tauschen sich über die soeben gemachten Erfahrungen und Erkenntnisse aus … Es entsteht ein erlesenes Gespräch zwischen uns. Und die Selbstsicherheit wächst, in die Rolle des „Lebendigen Buches“ am Aktionstag vollends einzutauchen und auch Dich zur Lektüre einzuladen.

Fazit: Der Wandel sei ohne Geldliebe. Hebräer 13.5

Für mich persönlich ist die „Lebendige Bibliothek“, die ich im KALEB-Zentrum Dresden e.V. erstmals so eindrücklich kennenlernen durfte, ein leuchtendes Beispiel einer mutigen Erfolgsgeschichte, die jeder und jede gratis bei sich ausprobieren kann. Ursprünglich entstand sie als eine Utopie gegen Stigmatisierung und Vorurteile und wurde als urbanes demokratiefähiges Gesprächsformat im Jahr 2000 in Kopenhagen entwickelt. Seitdem inspiriert sie weltweit, vor allem teilnehmende Ehrenamtliche zu verblüffenden Selbsterkenntnissen, regt subtile Transformationsprozesse an, fasziniert, berührt, ergreift, integriert, empathisiert und klärt auf, ohne zu belehren.

2024 soll in Dresden wieder eine „Lebendige Bibliothek“ durch das Projekt KOMMunity umgesetzt werden. Ehrenamtler jeden Alters und Bibliophile sind herzlich willkommen! Weitere Infos demnächst hier …